Babyboomer in der Problemzone

«Berner Zeitung»-Redaktor Jürg Steiner über seinen Eintritt in die Kategorie «50 plus». Wir danken ihm herzlich dafür, dass er unsere Webseite erwähnt.
Babyboomer, Generation 50plus, über 50
Irgendwann ist man 50plus. Tut nicht weh (Foto: Shutterstock)

Noch vier Tage, dann bin ich weg. Auf dem Sprung in ein anderes Leben - Ü-50! Ab dem 1. Januar 2015 gehöre ich als 1964 Geborener zur Generation der über 50-Jährigen. Definitiv.

Und nicht banal, im Fall: Mehr als uns gab es noch nie. 112'890 waren wir an der Zahl, als wir geboren wurden, der grösste schweizerische Jahrgang aller Zeiten. Und der letzte, den man zur Babyboomer-Generation zählt.

Nach uns begann der Pillenknick, die Geburtenrate sank. Heute kommen pro Jahr noch 80'000 Kinder zur Welt. Vielleicht nie mehr wird der demografische Bauch bei den 50-Jährigen dicker als bei uns.

Denn seit unserer Geburt haben Einwanderer unseren Jahrgang noch um etwa ein Drittel vergrössert: Rund 135'000 Menschen haben gemäss Statistik 2014 in der Schweiz den 50.Geburtstag gefeiert.

Und wir sind wohl auch als 100-Jährige noch Spitzenklasse: So viele wie von uns werden noch nie übrig geblieben sein. Ich schluckte leer, als ich realisierte, dass ich in wenigen Tagen erstmals einer Alterskategorie mit eigener Website angehöre: www.50plus.ch!

Guten Tag! Bis jetzt war ich - im statistischen Durchschnitt - voll im Saft. Selbstverantwortlich. Unabhängig. Funktionsfähig. Nun rechnet man allgemein mit sich rasch manifestierenden physischen und psychischen Defekten, denn ab sofort zähle ich zu einem Kollektiv, das von der Ratgeberbranche aufsässig bearbeitet wird.

Nicht nur, dass man sich ab 50 zu Vorsorgeuntersuchungen an Prostata und Darm gedrängt sieht. Vor allem werden einem unliebsame Existenzfragen an den Kopf geworfen: Männlichkeit im Sinkflug - 50 plus, was tun? Hilft Musik bei Ü-50ern, die Gedächtnisleistung zu erhalten?

Aktiv wie die Jungen - Generation 50 plus auf Partnersuche im Internet! 50 plus - wie erhalte ich in der Lebensmitte meine Attraktivität auf dem Arbeitsplatz?

Die Berner Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello ist eine kundige Erforscherin dieser Lebensmitte, die sie in ihren Vorträgen und Büchern als "extrem herausfordernde Zeit" bezeichnet: weil gleichzeitig die Kinder ausfliegen, die Eltern gebrechlich werden, die Beziehung erlahmt und der Beruf die Seele ausbrennt.

Das Leben stellt sich selber infrage. Man müsse in diesem Alter seine Identität neu justieren, so Perrig-Chiello, ähnlich wie in der Pubertät. Was für ein Spagat!

Die Regie der modernen Leistungsgesellschaft sieht für mich auch mit 50plus ein anstrengendes, aber aufregendes Leben im latenten Risikomodus vor. Mit klarem Auftrag: Potenziale bewahren, den Zerfall aufhalten, Problemen vorbeugen - an der körperlichen und seelischen Front.

Mit jahrzehntelanger Ausdauer. Denn unsere Sterblichkeit ist so klein, dass wir wohl sehr alt werden. Effizienz - forever! Flexibilität - no problem! Herausforderung - I like! Müde werden - no go! Das ist das jugendliche Programm 50plus - auch wenn es in uns drin anders aussieht: Die Zweifel wachsen, der Tonus lässt nach, die Zuversicht wankt, die Verspannungen verhärten sich.

Dabei waren wir so relaxed und optimistisch, als wir anfingen im Leben. Denn wir wurden samtweich hineingeboren in eine Welt, die nur eine Richtung kannte: grösser, weiter, schneller.

Der Berner Vorort Zollikofen, wo ich aufwuchs, war 1964 ein Schlafdorf mit gut 6000 Einwohnern, das gerade die ländliche Gemeindeversammlung durch ein Parlament ersetzte.

Heute ist Zollikofen ein urbanisierter Entwicklungsschwerpunkt mit 10000 Einwohnern und 5000 Arbeitsplätzen und macht sich daran, mit der "Schäferei" die letzte Baulandreserve zuzubauen, die ich als Heranwachsender noch als grüne Wiese kannte.

Ich erinnere mich, wie wir Kinder Anfang der 70er-Jahre durch die Zeichnungen des Illustrators Jörg Müller blätterten, der mit "Alle Jahre saust der Presslufthammer nieder" das Vordringen des städtischen Molochs in die grüne Idylle problematisierte.

Draussen lief ab, was Müller gezeichnet hatte. Wir wurden Zeugen, Komplizen und Opfer einer Revolution, deren Ende nicht abzusehen ist: der Beschleunigung der Mobilität. Als wir auf die Welt kamen, war die Grauholz-Autobahn - Doppelspur ohne Leitplanken - seit zwei Jahren in Betrieb.

Heute steht der Ausbau auf acht Spuren bevor. Auf dem Rücksitz des elterlichen VW war ich 1971 dabei, als wir die neu eröffnete A6 Richtung Oberland Probe fuhren, auf dem Rastplatz Thun-Süd Cervelat mit Senf verzehrten und nach Hause zurückkehrten.

Es war ein erstes Schnuppern an der mobilen Selbstverständlichkeit, mit der wir heute zum Weekendshopping nach London fliegen. Der Erdölschock von 1973 verblieb in meinem Gedächtnis als hübsche Episode mit autofreien Sonntagen.

Aber nicht dass sich so etwas wie ein Bewusstsein für Krisen gebildet hätte. Wir konnten es uns leisten, dagegen zu sein und doch mitzufahren. Später, in den frühen 80ern am Gymnasium, trug ich verwaschene Kleider und einen aus heutiger Sicht unfassbar dichten Haarschopf.

Vor allem aber vertiefte ich mich an meinem schon damals unaufgeräumten Pult in "The Aquarian Conspiracy" der US-Autorin Marilyn Ferguson, es war die Bibel der New-Age-Bewegung, des Nachfolgehypes der Hippies.

"Die sanfte Verschwörung" des Wassermanns, wie das Buch auf Deutsch hiess, entlarvte den Wachstumsglauben der Wirtschaftselite als eindimensional und entwarf ein ökologisches Weltbild.

Es war veredelt mit Impulsen aus dem fernöstlichen Philosophiefundus, das Widersprüche zwischen Realität und Fiktion angenehm vernebelte. Das Wort Nachhaltigkeit erfasste erstmals meine Gehirnwindungen.

Im Geist war ich ein überzeugter, aber sanfter grüner Fundi, als ich in farbigen Hosen mein Geografiestudium aufnahm. Die "Grenzen des Wachstums", heute längst ad absurdum geführt, hatte ich fest im Blick.

Ich sass im Hörsaal, zusammen mit zwei oder drei Dutzend anderen Erstsemestrigen, und allen war klar: So viele Geografinnen und Geografen braucht der Arbeitsmarkt nie und nimmer. Was uns fast gar nicht verunsicherte - im Gegenteil.

Es stärkte sogar unser säuselnd rebellisches Lebensgefühl, fundiert durch eine lässige Grundzuversicht, die ich heute als das prägendste Charakteristikum der Rekordgeneration 1964 bezeichnen würde: die Gewissheit, verschont zu bleiben.

Auch uns ereilten persönliche und gesundheitliche Probleme. Aber: Unser berufliches und ökonomisches Leben verlief wie selbstverständlich im Aufwärtstrend. Auch, weil wir fleissig waren. Vor allem aber waren wir begünstigt. Der Arbeitsmarkt, der uns angeblich nicht brauchte, sog uns einfach auf.

Dem erbitterten Fight um schlecht bezahlte Praktikumsplätze, der heute den Alltag von Studienabgängern prägt, mussten wir uns nie aussetzen. Heute sitzen viele meiner damals freakigen Studienkolleginnen und -kollegen wie ich an tollen, kreativen Arbeitsstellen - im Journalismus, in Bundesämtern, an Forschungsinstituten, bei den SBB, in Ingenieurbüros.

Meine Generation 1964, die in der analogen Welt grossgeworden ist, steht jetzt, im digitalen Hochgeschwindigkeitszeitalter, als Meinungsmacher im Kommandostand und spürt deshalb mitunter etwas Gegenwind.

Doch allein kraft unserer Menge werden wir die Aufstiegswege für die nachfolgenden Generationen noch ziemlich lange verstopfen. Bequem surften wir auf dem Erfolgskurs der Schweiz. Wir steigerten uns hierarchisch und materiell.

Es gehört wie selbstverständlich zu unseren Biografien als altgediente Wachstumsskeptiker, dass wir uns ständig mehr Wohnraum, mehr Mobilität, mehr Elektronik leisten.

Behände pendeln wir Widersprüche aus. Wir begleiteten die Schweiz bei ihrem Aufstieg zur europäischen Wohlstandsinsel, mit rekordtiefer Arbeitslosigkeit und rekordhoher Lebensqualität.

Wirtschaftliche Depression und sozialen Abstieg kennen wir nur aus den Auslandnews am TV. Noch nie war eine Generation von 50-Jährigen so wohlhabend, so leistungsfähig, so fit, so chancenreich wie wir.

Es müsste weitergehen wie bisher. Müsste. Tatsache ist, dass nicht nur ich die Schwelle zu 50 plus mit einem Gefühl des Bedrohtseins überschreite. Die Gratulationen zum 50.Geburtstag hörten sich an wie Willkommensgrüsse in der Problemzone.

Unser Wohlstand droht die Selbstverständlichkeit zu verlieren.


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