Familie
Patchwork: Gemeinsamkeit statt Perfektion
Was sich nicht alles ansammelt, zerstreut und wieder einfindet nach vielen Verbindungen
Ein langes Leben bedeutet heutzutage, auch viele familiäre Phasen, Brüche, Neuorientierungen und 'Lebensabschnittspartner' gesehen zu haben. Die geschwundenen gesellschaftlichen Konventionen, die die Leute oft zwangen, der Reputation wegen in lebenslangen Ehen zusammenzubleiben, während davon nur die Fassade übrig geblieben war, sind für viele Zeitgenossen Vergangenheit. Und diese Zeitgenossen sind inzwischen selbst alt geworden. Sie konnten über Jahrzehnte Erfahrungen mit mehreren Ehen und Kindern, die aus diesen verschiedenen Ehen, oder auch aus gar keiner Ehe stammen, sammeln. Das ist mit Patchwork-Leben gemeint, analog zur gleichnamigen Art von Familie, die den Hintergrund zu diesem Begriff liefert. Der Familienbegriff wurde damit ausgeweitet, die Grossfamilie ist jetzt weniger auf tatsächliche Blutsverwandtschaft aufgebaut, als auf 'Wahlverwandtschaften', um diesen Goethe-Begriff zu benutzen. Das bedeutet mehr Freiheiten in der Gestaltung der Beziehungen untereinander, aber auch mehr Stress, da fertige Regeln fehlen.
Wie könnte es nach so viel Patchwork je langweilig werden?
In einer derartigen Familie und dem daraus resultierenden Patchwork-Leben werden die Regeln untereinander immer wieder frisch ausgehandelt. Vielleicht nicht ausdrücklich und offen, aber unterschwellig auf jeden Fall. Von der Vater- oder Mutterrolle haben die neuen Partner und Mitglieder durchaus voneinander abweichende Vorstellungen, was alles unter einen Hut zu bringen ist. Und sie bringen jeweils neuen Anhang mit. Kinder, Grosseltern, Tanten, Onkels, Neffen und Nichten aus verschiedenen Phasen eines bunt zusammengewürfelten Lebens - Sie ahnen, was das für ein Durcheinander auf Dauer ergibt. Von den diversen Milieus und sozialen Hintergründen eines jeden neuen Lebensabschnitts-Familiengefüges soll erst gar nicht gesprochen werden, macht die Sache aber mit Sicherheit noch bunter. Sie mögen sich vielleicht nicht gegenseitig mit einem lebenslang an Sie geketteten unpassenden Partner anöden, wie Ihre Vorfahren ein paar Generationen davor, aber dafür ist der Manager komplizierter zwischenmenschlicher Konstellationen in Ihnen gefragt. Langweilig wird das nicht, vor allem, wenn alle zu Festen zusammenkommen.
Vom Stamm aus in die verästelte Baumkrone blicken
Im Alter haben Sie dann nicht nur Ihren Doktor und Professorentitel h.c. in Familienkunde erworben, Ihnen bleibt der Trubel dann auch erhalten. Denn alle zurückgelassenen Teile Ihrer zeitweisen Familienkonstellation haben ja ihrerseits wieder Familien gegründet, möglicherweise, und für Nachkommen gesorgt. Die selbst wieder bunte Lebensabschnitts-Sozialgefüge aufsetzen (ob die dann noch Familien genannt werden, ist eine andere Frage). Es versteht sich von selbst, dass in derart weit gespannten sozialen Strukturen keine strengen Regeln durchsetzbar oder auch nur erwünscht sind, denn Ihre Stimme ist nur eine von vielen, und Sie sitzen nicht auf einem matriarchalischen oder patriarchalischen Thron. Das Wichtigste ist das Gefühl einer Gemeinsamkeit durch die lockere Schicksalsgemeinschaft, durch die alle ein bisschen miteinander verbunden sind. Gemeinsamkeit ist eine eher freiwillige Sache, auf die sich nicht pochen lässt. Wenn Sie all diesen Leuten Ihren Willen aufzwingen wollen, werden Sie bald verlassen sein. Das funktioniert nicht mit strenger Hierarchie wie am Küchentisch Ihres Grossvaters. Der hatte auch nicht das Vergnügen, so viel Vielfalt um sich herum zu erleben. Die Aussichten, im Alter zu vereinsamen, sind also mit der bunten Vielfalt eines aus mehreren Familienexperimenten während eines langen Lebens geschaffenen Anhangs viel geringer als nach einer herkömmlichen Ehe oder Partnerschaft, die Jahrzehnte unverändert andauerte. Zumindest, wenn Sie ein netter Mensch sind, der zu einem netten Senioren heranreifte und immer ein Ohr und ein Herz für seine oder ihre Lieben bewahrt.
Die Jagd nach einem unerreichbaren Ideal ist vorbei
Sie haben es ohnehin leichter, wenn Sie die Idee, alles müsse perfekt sein, ablegen und offen für sympathische Unzulänglichkeiten werden, die Ihnen mit so vielen unterschiedlichen Menschen in Ihrem weiter gesteckten Clan begegnen müssen. Die perfekte Familie, es hat sie nie wirklich gegeben. Dies ist nur eine Idee, die in den Köpfen herumspukte und Leute zu drastischen Mitteln greifen liess, um ihre Vorstellung von einer idealen Familie per Zwang durchzusetzen. Beispielsweise der Drill einer Erziehung der Kinder zu Gehorsam, die Reduzierung der Gattin auf dienende Funktionen im Haushalt und irgendwelche sinnentleerten Rituale, auf deren Einhaltung gepocht wird. Die bunt zusammengewürfelte Familie mit ihren Spuren im Leben eines zum Senioren gereiften Mitglieds legt dagegen ein lockeres Bekenntnis zu einer Gemeinschaft nahe, bietet Gelegenheit, sich in Toleranz und Gelassenheit zu üben. Das sind Eigenschaften, die im Alter unbedingt wohltuend sind, statt der fixen Idee einer Perfektion, die nie erreichbar war, nachzujammern. Sie werden vielleicht nicht mit allen ehemaligen Familienmitgliedern Kontakt halten, aber in einer solchen Menge bleiben immer welche übrig, denen daran gelegen sein wird. Betrachten Sie dazu, wie sich auch Verbindungen untereinander ergeben, unter Personen, die sich damals nie begegnet sind, weil Zeit zwischen den Lebensabschnitten lag.