SINNSUCHE
Die rüstigen Senioren im Unruhestand
Ruhestand, das war einmal. Das Bild des Rentners im Schaukelstuhl wirkt heute schon fast beleidigend, schreibt Lucie Machac in der "SonntagsZeitung". Senioren besteigen Berge, reisen um die Welt, trainieren, gehen zur Uni, daten andere Senioren und bespassen wann immer nötig die Enkel.
Das ist gut so, denn im Schnitt leben Schweizerinnen und Schweizer nach der Pensionierung noch 15 Jahre bei guter Gesundheit - Tendenz steigend. Das Ganze hat nur einen Haken: Enkel und Hobbys allein machen auf Dauer nicht glücklich, wie Umfragen zeigen.
Spätestens nach drei bis vier zufriedenen Jahren, die man mit Ausflügen, Kinderhüten und Gartenarbeit problemlos ausgefüllt hat, kommt die Sinnkrise. Irgendetwas fehlt. Erfolgserlebnisse. Herausforderungen. Anerkennung.
Es ist der Moment, in dem man realisiert: Selbstverwirklichung hört nicht mit 65 auf. Die plötzliche Bedeutungslosigkeit nach der Pensionierung trifft Männer meist härter als Frauen, weil sie sich stärker über den Job definieren.
Doch anders als früher nehmen Rentner festgefahrene Altersbilder nicht als gegeben hin. Im Gegenteil: Pensionierung bedeutet Aufbruch. Für viele beginnt ein Lebensabschnitt, der genauso ergiebig gestaltet werden will wie die Jahre davor, als man noch Teil der Leistungsgesellschaft war.
Und natürlich schwingt der Wunsch mit, weiterhin wahrgenommen zu werden, und zwar nicht nur als fitte Grosseltern. Kurzum: Die neuen Alten wollen eine gesellschaftliche Aufgabe, die ihren Fähigkeiten gerecht wird - und die vor allem auch ihr Ego befriedigt.
Die Freiwilligenarbeit hat sich verdoppelt
Google findet auf Anhieb rund ein Dutzend Portale in der Schweiz, die mehr oder weniger attraktive Jobs für Rentner vermitteln. Reich werden diese damit kaum, doch das ist zweitrangig. Die meisten Senioren leisten ohnehin Gratisarbeit, als Freiwillige.
Sie machen Fahrdienste für Betagte, kochen für Flüchtlinge, packen bei Sport- und Kultur-Events mit an. Männer bringen sich typischerweise mehr in Vereinen ein, Frauen bei der persönlichen Betreuung.
Bemerkenswert ist, dass beide Geschlechter zunehmend engagiert sind. 2016 arbeitete gemäss Statistiken des Bundes mehr als die Hälfte der 65- bis 74-Jährigen unentgeltlich, 2010 waren es nur knapp 38 Prozent.
Bei den Ü-75-Jährigen hat sich die Freiwilligenarbeit in sechs Jahren sogar fast verdoppelt - von 17 auf 30 Prozent. Dass Engagement im Alter immer selbstverständlicher wird, beobachtet die Pro Senectute schon länger.
"Senioren wollen weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sich zugehörig fühlen", sagt Peter Burri Follath, Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung. Auch die Vorbereitung auf die Pensionierung habe einen grösseren Stellenwert als vor zehn Jahren.
In Pro-Senectute-Beratungen werden deshalb nicht nur finanzielle Fragen und Freizeitgestaltung thematisiert. "Wir ermuntern die Senioren, sich eine Tätigkeit zu suchen, bei der sie spüren, dass sie gebraucht werden."
Das ist sinnstiftend und schützt vor Vereinsamung, insbesondere nach dem Tod des Ehepartners. Freiwillige, die bei der Pro Senectute arbeiten, sind zu 70 Prozent selbst Rentner. Der Vorteil: Sie treffen Gleichgesinnte im ähnlichen Alter.
Einer von ihnen ist Urmi Mischler aus Gibswil ZH. Der 77-Jährige organisiert seit zehn Jahren Velotouren für Senioren. "Ich habe mich nach der Pensionierung zu Hause gelangweilt, weil meine Frau noch berufstätig war", erzählt der ehemalige Gymnasiallehrer.
"Also habe ich mich für Velotouren angemeldet." Anfangs als Mitfahrer, seit 2008 als Leiter. Mischler hat dafür eine vierwöchige Ausbildung absolviert, "mit Theorie und Praxis", wie er betont.
Jedes Jahr leitet er rund 15 Touren, verbringt viel Zeit draussen mit dem Rekognoszieren von neuen Routen und hält auch seine grauen Zellen auf Trab, weil er nie nach GPS fahren würde. Die Strecke speichert er im Kopf.
"Dank den Touren erfahre ich Wertschätzung, die ich sonst nicht hätte", sagt Mischler. Das anerkennende Schulterklopfen nach einer gelungenen Tour, die Verantwortung, die vielen Kontakte mit Menschen und nicht zuletzt das Wissen, noch gebraucht zu werden, empfindet der Senior als "sehr belebend".
Manche brauchen die Arbeitswelt als Lebenselixier
Doch längst nicht alle älteren Semester geben sich mit Freiwilligenarbeit zufrieden. Einige stellen die Weichen komplett neu, als wären sie 20 - und fangen beruflich ganz von vorne an. Christine Schnetzler ist eine dieser Pionierinnen.
Die ehemalige Hotelvizedirektorin dachte bereits mit 58, dass sie eine Tätigkeit braucht, die sie über das Pensionsalter hinaus ausüben kann. "Neben der Rolle als vierfache Grossmutter brauche ich die Arbeitswelt als Lebenselixier", sagt die heute 62-Jährige.
Allerdings waren viele Gespräche mit ihren Nächsten und mit sich selbst nötig, bis sie mit 60 Jahren allen Mut zusammennahm - und sich komplett neu erfand. Schnetzler gründete einen Betreuungsservice für Haushalte.
"Es ist eine Art Hotline für Menschen, die Entlastung brauchen, damit die tägliche Routine erhalten bleibt, wenn die Eltern einen beruflichen Engpass haben oder der Partner einen Unfall hatte." Schnetzlers Mitarbeiter holen Kinder von der Kita ab oder betreuen sie, wenn sie krank sind.
Sie erledigen Einkäufe oder fahren den betagten Vater zum Arzt. Seit eineinhalb Jahren ist die Zürcherin damit gut im Geschäft, inzwischen führt sie ein Team mit fünf Männern und Frauen zwischen 60 und 67 Jahren.
Warum keine Jüngeren? "Grundsätzlich arbeite ich mit Menschen, die viel Lebenserfahrung haben und die flexibel und verantwortungsbewusst Einsätze leisten können", begründet Schnetzler ihre Wahl.
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